Leise fiel die Tür hinter Barbara ins Schloss. Sie wusste zwar nicht, wohin sie gehen wollte, aber sie musste weg. Weg von hier. ‚Nein, das gebe ich mir jetzt nicht – ich pack das heute einfach nicht.‘
In diesen Gedanken lag wohl ein großes Maß an Verzweiflung, das sicher auf den Stress der letzten Tage zurückzuführen war. Heute war – ja – heute war Heiliger Abend. Sie ging die verträumt-verschneite Straße entlang, sanft fielen dicke Schneeflocken vom Himmel, als wollten sie sie versöhnen. Es war eigentlich ein herrlicher Abend.
Doch Barbara konnte diese Schönheit nicht sehen. Immer wieder liefen die Gedanken nach Hause zurück, wo sie noch viel Arbeit gehabt hätte. Die ganzen Geschenkspäckchen mussten noch schön vor dem Weihnachtsbaum drapiert werden, Lametta auf die Zweiglein, sonst war der Baum ja fertig.
Mein Gott! Und in der Küche! Was da noch alles zu machen war! Die Salate! Der Karpfen gehörte noch paniert, der Tisch gedeckt!
‚Und alles bleibt immer an mir hängen! Ich will einfach nicht mehr! Ich komme mir vor wie der letzte Haustrampel! Jeder erwartet von mir alles. Kekse backen, Christstollen, Mohnstrudel, Nussstrudel – das Festessen! Und wer räumt alles wieder weg? Wer wäscht das Geschirr? Wer geht mit dem Müll hinaus? Ich. Ich. Ich. Die glauben wohl, ich bin eine Maschine! Und am Christtag wetzen wieder alle die Messer an meinem Tisch! Ich halte das nicht mehr aus. Ich will es nicht mehr aushalten. Macht euch doch euren Dreck selber! Die werden blöd schauen, wenn ich nicht mehr da bin. Leider sehe ich das nicht, aber es würde mich sehr befriedigen. Echt. Der Peter wird enttäuscht sein, meine Mutter wird sowieso kein gutes Haar an mir lassen, die Kinder werden wieder einmal gar nichts schnallen, nur hoffen, dass sie die Geschenke trotzdem bekommen. Der Einzige, der sich Sorgen machen wird, ist mein Papa. Der wird mich vielleicht sogar suchen gehen. Um ihn tut’s mir echt leid.‘
Seelischer Schmerz und Empörung lagen in diesen Gedanken und es war niemand da, der ihr diese Verzweiflung aus dem Herzen nehmen hätte können.
Von irgendwo her drang ein Weihnachtslied an ihre Ohren… ‚Oh du fröhliche, oh du selige, gnadenbringende…‘
‚Wenn ich das schon höre! Fröhlich, selig, gnadenbringend! Ha! Für wen? Ich kann’s wirklich nicht mehr hören! Wo ist denn der Weihnachtsgedanke? Frieden? Wo? Warum muss immer alles so hochgeschaukelt werden? Kann man nicht bescheiden feiern? Sich auf das Eigentliche besinnen? Die meisten denken an diesem Tag doch gar nicht an Christi Geburt! Profit, Profit, schreien die Geschäftsleute! Hauptsache ist, der Rubel rollt, die Geschenke stimmen und die Weihnachtsbeleuchtung vor dem Haus funktioniert. Aber Herbergsuche? Jeder würde einen, der anklopft, von der Schwelle weisen in Zeiten wie diesen. Kein Armer würde auch nur irgendetwas bekommen – wegjagen würde man ihn wie einen streunenden Hund. Ganz genau so wie es Josef und Maria gegangen ist. Würde ein Mensch, den ich kenne, einer hochschwangeren fremden Frau Unterschlupf gewähren? Sicher nicht. Ich wahrscheinlich auch nicht. Also – nichts hat sich seit damals geändert. Und ich bin genauso ein Arsch wie alle anderen.‘
Entmutigt ging Barbara weiter. Die Schneeflocken fielen dichter und sie kam an einem erhellten Fenster vorbei. Wieder hörte sie leise ein Weihnachtslied… ‚Still, still, still, weil‘s Kindlein schlafen will…‘ Barbara hielt im Gehen inne und sah durch das Fenster. Es war ein weihnachtlich geschmückter Raum, in den sie blickte. Pompös und festlich – aber – vor dem Christbaum stritten sich heftig zwei Leute. Das konnte man eindeutig erkennen. ‚Typisch. Was ich immer sage. Haben alles und an einem solchen Tag eskaliert die Situation. Na dann, fröhliche Weihnachten!‘
Barbara ging weiter. Ihre Sorgen schienen ein wenig weggerückt zu sein. Sie wusste nicht, wie lange sie gegangen war, aber da war wieder ein Fenster und automatisch sah sie wieder hinein. ‚Es ist ein Ros‘ entsprungen…‘ Da stand ein armseliger kleiner Weihnachtsbaum – voll Liebe geschmückt. Kaum Geschenke – aber die kleine Familie lag sich innigst in den Armen. Barbara kamen die Tränen. ‚Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung. Hoffnung auf Frieden und Liebe… ich sollte heimgehen… ich bin sooo müde… da ist eine Bank… nur einen kleinen Augenblick… Ruhe… Stille… dann gehe ich nach Hause… bestimmt.‘
Dass diese Bank verschneit war, spürte sie gar nicht – da war nur ihre Erschöpfung und die Wohltat, die Augen geschlossen zu haben…
Sie fühlte eine Berührung an ihrer Schulter.
‚Ein kleines bisschen noch, gleich…‘
„Kommt, wir geh’n nach Bethlehem… “
‚Zu weit…‘
„Komm, wach auf! Das Christkind wird gleich kommen! Und deine Eltern!“
Barbara fuhr hoch und merkte, dass sie in ihrem Wohnzimmer saß.
„Mein Gott, bin ich eingeschlafen? Ich habe noch so viel zu tun! Warum hast du mich nicht geweckt? Das gibt’s doch nicht! Ich werde ja nie fertig!“
Barbara wollte aufspringen, doch Peter drückte seine Frau liebevoll auf den Sessel zurück.
„Jetzt komm doch runter! Alles im grünen Bereich! Alles fertig! Schau doch, Lametta am Baum, Packerl aufgestellt, Fisch paniert, Salat mariniert – mach dir doch nicht immer so viele Sorgen! Alles willst du alleine schaffen, dabei hast du ja mich – schon vergessen? Wenn du werkst, traut sich ja kein anderer mehr in die Küche! Aber heute hast du mir die Chance gegeben, dir zu zeigen, dass ich auch kann!“
Es läutete an der Türe. Die Eltern kamen mit den Kindern, die sie zur Aufsicht hatten. Peter verschwand in einem unbeobachteten Moment im Zimmer und kurz darauf läutete das Glöckchen. Die Türe öffnete sich und da stand er – ein wunderschöner Christbaum – alle sangen Weihnachtslieder – eigentlich so wie immer. Und trotzdem – heute war irgendetwas ganz anders.
Nach Motiven aus dem wahren Leben – geschrieben 2013 von Soreylia
Den Streß tun wir uns schon lange nicht mehr an. Und im Kolleginnenkreis haben viele dieses ausufernde Weihnachtsfest Dank Corona gedrosselt. Durch meine Arbeit kommen eh kaum Weihnachtsgefühle auf. Da brauche ich die freien Tage zur Erholung.
Die Geschichte war wieder sehr schön geschrieben und regt zum Nachdenken an. Danke fürs teilen mit uns.
Ich wünsche euch einen schönen 4. Advent.
Wunderschöne Geschichte! Danke, dass du sie mit uns teilst.
Soreylia war eine tolle Erzählerin.
Wünsche euch allen eine schöne restliche Woche.