Der stille Gast

Für Frau Dorothea waren schon viele Weihnachten ins Land gezogen, an denen sie alleine war. Sie war schon sehr alt, hatte zwei Weltkriege überlebt und war alleine geblieben. Kein Mann, keine Kinder. Sie hatte sich daran gewöhnt und haderte nicht mit ihrem Schicksal. Sie wusste, dass es viele Menschen gab, denen es schlecht ging. Auch in der heutigen Zeit. Armut fragt nicht. Dorothea war sehr genügsam und brauchte eigentlich nicht viel, deshalb hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, wenn ihr Geld übrigblieb, es zu spenden. Sie war überzeugt davon, dass sie so ein gutes Werk tat. Womit sie ja auch recht hatte. Außerdem tat sie etwas, wo manche Leute meinten, sie sei ein bisschen wunderlich. Am Heiligen Abend deckte sie den Tisch für zwei – nämlich für sich selbst und einen stillen Gast. Symbolisch sozusagen.
An diesem vierundzwanzigsten Dezember ging es ihr gar nicht gut. Sie war müde und konnte sich kaum auf den Beinen halten – naja, das hohe Alter machte ihr immer mehr zu schaffen. Aber den zweiten Teller, den hatte sie auch heute nicht vergessen. In Gedanken versunken saß sie am Tisch, schaute den Teller an und dachte bei sich: ‚Wie schön wäre es, wenn auch nur ein einziges Mal jemand gekommen wäre.‘
Sie aß ihre bescheidene Mahlzeit, da läutete es an der Türe. Wie erstaunt war sie, als ein Kind davorstand und um Einlass bat. ‚Dich schickt der Himmel‘, dachte sie, ‚Einmal wenigstens, dass ich nicht umsonst gedeckt habe.‘
„Komm, tritt ein, du bist willkommen“, sagte die alte Frau.

„Danke, ich weiß, dass du schon lange auf mich wartest und heute bin ich gekommen, um dir zu danken!“
„Wofür willst du mir danken? Ich habe dir doch noch gar nichts Gutes getan! Setze dich doch und iss mit mir. Es ist zwar kein Festmahl, aber es wird dich bestimmt wärmen! Sieh, es reicht für uns beide!“
Erst jetzt bemerkte Frau Dorothea, wie ungewöhnlich dieses Kind war. Es hatte nur ein Hemdchen an und war barfuß und trotzdem strahlte es Licht und Wärme aus – sie konnte es sich nicht erklären.
„Frierst du denn nicht?“, fragte sie das Kind.
„Nein“, flüsterte dieses, „mir ist immer so warm wie die Herzen der Menschen sind, mit denen ich zusammen bin.
Schweigend aßen sie das karge Mahl und als sie fertig waren, sagte das Kind:
„Jetzt hast du mir Gutes getan, darf ich nun auch was für dich tun?“
„Was willst du für mich tun?“
„Ich könnte dir mein zu Hause zeigen und wenn es dir gefällt, kannst du für immer bei mir bleiben.“
„Wo ist denn dein zu Hause?“, fragte Dorothea.
„Dort, wo alle gern zu Hause wären – komm…“
„Ja. Lass mich nur noch ein klein wenig ausruhen, ich bin müde…“
Mit diesen Worten setzte sie sich in ihren gemütlichen Lehnstuhl und schloss die Augen.
„Nur einen kleinen Moment…“, sagte sie noch einmal, bevor sie entschlief.

Als ihre Heimhilfe am nächsten Morgen kam, fand sie Dorothea friedlich in ihrem Lehnsessel. Ihre Zeit war gekommen.
Die Helferin wunderte sich nur, dass der zweite Teller, der auf dem Tisch stand, diesmal auch benützt war und keiner konnte sich erklären warum. Bewahren wir Dorotheas Weihnachtsgeheimnis in unseren Herzen.

erzählt von Soreylia A.D. 2013

3 Kommentare on “Der stille Gast

  1. Ja, das konnte nach der 1. Zeile wirklich nur eine Geschichte Deiner lieben Freundin Soreylia sein, wie es sich am Schluß zeigte. Sie hätte Kinderbücher schreiben können. Danke Dir.

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