Die Weihnachtsvorbereitungen waren überall im vollen Gange und von Adventstille konnte keine Rede sein. Alles hastete und hetzte und jeder versuchte mit aller Kraft, noch dieses oder jenes Geschenk zu ergattern. Und in all dieser unheiligen Eile saß bei einer Straßenbahnhaltestelle, fernab allen Trubels, eine alte Frau und spielte auf ihrer Harfe. Ich hielt inne, blieb stehen und horchte ihr eine Weile verzückt zu. Alte, schöne, fast vergessene Weihnachtslieder drangen an mein Ohr und mit jedem Ton den ich hörte, fiel ein bisschen mehr der Stress, der auch mich voll erfasst hatte, von mir ab. Dann spielte sie eine Melodie, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Sie war so schön und rührend, dass mir mit einem Male die Tränen nur so von meinen Wangen rollten. Was ich die ganze Zeit schon tat, kam mir mit einem Male so unsinnig vor – die ganze Hetze hatte ja wirklich nichts mehr mit ‚der stillsten Zeit im Jahr‘ zu tun. Mit einem Male hatte ich so ein richtig tolles Weihnachtsgefühl. Ich dachte so für mich ‚wenn ich dieses Gefühl nur verpacken und verschenken könnte!‘. Aber die nächsten Gedanken waren, dass wohl kaum jemand dieselben Dinge spüren würde, wie ich in diesem Augenblick. Der gehörte nur mir. Mir ganz alleine. Und den hatte mir eine mir völlig unbekannte Frau vermittelt – welch ein kostbares Geschenk.
Als die Frau geendet hatte und ihr Instrument verstummt war, sprach ich sie an:
„Was war das nur für eine wundervolle Weise, die sie da zuletzt gespielt haben? Ich habe sie noch nie gehört und sie hat mich tief im Grunde meiner Seele gerührt.“
Sie lächelte mich an und sagte:
„Das geht jedem so, der sich die Zeit nimmt und wirklich zuhört.“
„Das kann ich sehr gut verstehen“, antwortete ich, „aber wie heißt dieses Lied? Es war einfach himmlisch!“
„Welch wahres Wort, aber das weiß ich selbst nicht, es war eine seltsame Begebenheit, wie ich dazu gekommen bin. Wenn sie ein wenig Zeit haben, bin ich gerne bereit, ihnen die Geschichte zu erzählen.“
Wie sie das sagte, sah sie mich freundlich an und ich hatte plötzlich nichts Wichtigeres zu tun, als mich zu ihr zu setzen und zuzuhören.
„Das ist schon einige Jahre her – sie müssen wissen, dass ich das schon sehr lange mache. Immer zur Weihnachtszeit zieht es mich mit meiner Harfe hinaus, um den Menschen ein wenig Freude zu bereiten. Manche halten mich für eine Bettlerin, sie sehen ja, dass da vorne ein kleines Säckchen hängt, wo mir die Leute manchmal Geld hineinwerfen. Ich selbst habe das nicht notwendig, aber alles, was ich in der Vorweihnachtszeit sammle, spende ich einem Kinderspital. Die brauchen immer wieder Hilfe. Wäre vor vielen, vielen Jahren das Geld nicht so knapp gewesen, wäre mein Kind wohl nicht gestorben – aber das ist lange her. Aber zurück zu der Geschichte des Liedes…
Ich saß also, genauso wie heute, und spielte – da trat ein jüngerer Mann auf mich zu und lauschte meinem Spiel. Ich kam mit ihm ins Gespräch und erzählte, warum ich das mache. Wie sie setzte er sich zu mir und hörte mir lange zu und meinte dann, dass es selten sei, eine so gute Harfinistin auf der Straße anzutreffen. Er fragte mich, wo ich das gelernt hätte. Er hörte mir geduldig zu und so erfuhr er, dass mir meine Tante diese Kunst beigebracht hatte. Sie war Lehrerin an diesem Instrument und obwohl kein Geld für eine Schule vorhanden war, hatte ich das große Glück, Harfe spielen lernen zu dürfen. Das war sonst nur für die ganz Reichen.
Nach einer Weile, die er noch neben mir gesessen war, stand er auf und verabschiedete sich von mir. Ich machte gerade wieder eine kleine Pause, um mir die Finger aufzuwärmen, da machte ich eine seltsame Entdeckung: an der Stelle wo er gesessen war, lag ein Stück Papier. Als ich näher hinsah, merkte ich, dass das ein Notenblatt war. Ich wunderte mich sehr, denn ich konnte auf den ersten Blick keine Noten darauf erkennen. Ich nahm das Blatt auf, da sah ich im Schein der Straßenlaterne, dass die Noten mit goldener Farbe geschrieben waren. Nach Hause zurückgekehrt begann ich diese Melodie zu spielen und es war das Lied, nach dem sie mich gefragt hatten. Und ich kann nur sagen, alle die es bewusst hören, sind zu tiefst gerührt.
Manche Leute wollten dieses geheimnisvolle Notenblatt sehen und ich habe es auch hergezeigt. Und sie werden es nicht glauben – niemand außer mir sieht diese Noten. Für alle anderen ist es ein wertloses, leeres Stück Papier.
Denken sie jetzt darüber, was sie wollen, aber glauben sie mir – ich bin nicht verrückt.“
Mit diesen Worten beendete die alte Frau das Gespräch und nach einer kurzen Verabschiedung widmete sie sich wieder ihrem Spiel.
Natürlich habe ich mir meine Gedanken gemacht, aber meine Spekulationen behalte ich für mich. Mir ist nur eines aufgefallen: von diesem Tag an war ich wie verzaubert, mein ganzer Weihnachtsstress vorbei und ich ging mit einem Lächeln durch diese hektische Welt.
erzählt von Soreylia, A. D. 2013
Eine sehr schöne Geschichte 😀👍. Vielen Dank 🥰.
Ich wünschte es würden viel mehr Menschen einfach mal innehalten und zur Ruhe kommen. Die Weihnachtstage rücken näher und die Menschen werden hektischer ☹️.
Wie schön ist doch so eine Geschichte die zum träumen und nachdenken anregt 😊🥰.
Von meiner Seite aus auch einen schönen dritten Advent 🕯🕯🕯
Sehr schön! Ich staune ja immer wieder, woher die gute Soreylia ihre Fantasie hatte. Na, vielleicht hat sie ja auch mal ein verzaubertes Blatt Papier gefunden.. wer weiss… Danke! 💖
Harfenmusik verzaubert immer wieder – ist aber eins der schwierigsten Instrumente. Kürzlich habe ich ein Interview gehört mit einer Harfenistin. Sie sagte, dass man gute Bauchmuskeln haben müsse, um Harfe zu spielen. … ich dachte: Bauchmuskeln?? Hä?🤔
… Sie hat es dann lachend aufgeklärt: Die grossen Orchesterharfen haben Pedale, die man mit den Füssen runter-drücken muss, damit die Saiten anders gespannt werden und man alle Töne spielen kann. Und da diese Pedale recht hoch liegen, hat man die Füsse praktisch dauernd etwas angehoben, was dann eben auf die Bauchmuskeln geht. Vielleicht würden so verlängerte (Charlie-Chaplin-)Schuhe helfen? 😁Oder hohe Absätze…?? 🤷
Ich liebe solche kurzen Geschichten, habe vorhin auch noch eine gelesen (Der verzauberte Adventskranz). Vielen Dank für diese tolle Geschichte. Gern mehr davon in dieser hektischen Zeit.
Ich wünsche einen besinnlichen 3. Advent. Liebe Grüße aus Thüringen.