Die Adventuhr
„Ach, du lieber Gott! Hat das denn gar kein Ende?“ schnaubte der Weihnachtsmann ungehalten, als er aus dem Fenster blickte. Der Schneesturm tobte nun schon seit Ewigkeiten und schien nicht an Kraft zu verlieren. Wenn nicht die Wichtel immer wieder mit ihren riesigen Schneeschaufeln mutig hinausgestapft wären und sich unermüdlich gegen den Sturm gestemmt und Türen und Fenster sowie die Dächer von Stall und Wohngebäuden von der Schneelast zumindest kurzfristig befreit hätten, wären einige Gebäude bereits von der weißen Pracht zerdrückt worden. Seit Beginn des Schneesturms war die ganze Siedlung von der Außenwelt abgeschnitten. Der Weihnachtsmann warf einen flüchtigen Blick auf die große Adventuhr, die dem Kamin gegenüber an der Wand hing und brummte erleichtert: „Na, wenigstens haben wir noch genug Zeit, um alles für Weihnachten vorzubereiten.“
Er setzte sich wieder an den Kamin und griff nach seiner Pfeife, die sanft einen dünnen, aromatisch duftenden Rauchfaden in die Luft entließ. Dann versenkte er sich wieder in die vorher unterbrochene Lektüre, bis das Mittagessen fertig war.
Irgendwann – so genau ist das ja nicht, weil ja im Winter die Sonne am Nordpol überhaupt nicht scheint und im Sommer dafür gar nicht untergeht – klopfte es laut an der Eingangstür. Der Weihnachtsmann öffnete und sah erstaunt in das Gesicht des Nikolaus. „Was treibst du denn um diese Zeit hier oben?“ fragte er ihn neugierig. „Na, was wohl? Nachschauen, was dich aufhält! Ich dachte schon, du liegst mit sonst was darnieder!“ „Hä? Wieso sollte ich mich um diese Zeit schon bei dir rühren?“ Der Weihnachtsmann blickte verwirrt und deutete hinter sich auf die Adventuhr.
Aber irgendetwas stimmte nicht… Auf der Uhr stand der Zeiger immer noch auf Anfang Oktober. Das konnte aber nicht stimmen, denn die Sonne war schon vor Wochen untergegangen – nur war das bei diesem ewigen Schneesturm niemandem aufgefallen. Auf der Stirn des Weihnachtsmanns bildeten sich tiefe Falten. „Sag, was ist heute denn für ein Datum?“ fragte er den Nikolaus. „Na, der siebente Dezember! Was glaubst du denn, warum ich mich auf den beschwerlichen Weg hier herauf gemacht habe? Ich habe mir schon ernsthafte Sorgen um dich gemacht!“
„Herr im Himmel! So spät schon?“ Der Weihnachtsmann stürmte zur riesigen Uhr und lauschte angestrengt. Nichts. Kein Schnurren von Zahnrädchen, kein leises Klicken, rein gar nichts. Das Einzige, was er hören konnte, war das Knacken der Holzscheite im Kamin. „Die Uhr muss kaputt sein. Da drin rührt sich überhaupt nichts.“ Der Weihnachtsmann fing an zu schwitzen. „Wie soll ich denn jetzt alles noch schaffen? Und – wie soll ich alles ohne eine funktionierende Adventuhr hinkriegen? Wir haben alle unsere Arbeitspläne immer genau nach ihr ausgerichtet und daher keine anderen Merkhilfen wie Terminpläne, Kalender und ähnliches. Es ist zum Verzweifeln!“
„Nur die Ruhe, es sind ja noch drei Wochen bis Weihnachten. Zuerst einmal musst du den Uhrmacher kommen lassen. Wenn die Uhr repariert ist, wird sich alles andere schon finden.“ „Nun gut, wie du meinst. Aber jetzt muss ich mich sputen – du kannst ja gerne mithelfen, wenn du willst – deine Arbeit ist für dieses Jahr doch erledigt.“ „Nööö, lass mal, mein Rücken ist noch ganz krumm vom schweren Sack, da brauche ich immer ein paar Wochen Erholung. Aber halte mich auf dem Laufenden, was Weihnachten angeht, in Ordnung?“ „Abgemacht! Und jetzt raus mit dir – ich habe alle Hände voll zu tun.“
Der Weihnachtsmann rief einen der Wichtel zu sich und trug ihm auf, den Uhrmacher zu finden und so schnell wie möglich herzubringen. Dann setzte er sich in seinen Lehnstuhl und betrachtete nachdenklich die große Uhr. Er konnte sich weder erinnern, wann sie in dieses Haus gekommen war, noch von wem sie stammte. Sie hatte, seit er hier wohnte, immer an dieser Wand gehangen, jahrein, jahraus – wie ein Uhrwerk eben. Die Uhr war aus dunkelbraunem, samtig wirkendem Holz, das mit wunderbaren filigranen Schnitzereien und wunderschönen Goldeinlegearbeiten über und über bedeckt war. Das Zifferblatt bestand aus mehreren konzentrischen Ringen. Der Äußerste zeigte die Tage des Jahres, der zweite die Monate an, der dritte die 24 Tage der Adventszeit und der darauf Folgende deren Stunden. Der Innerste schließlich zeigte die Stunden des 24. Dezember – er war aus purem Gold und schimmerte an jedem Adventtag ein wenig heller, um am 24. aus einem inneren Licht heraus zu strahlen. Der Weihnachtsmann konnte sich nicht erinnern, dass die Uhr irgendwann nicht funktioniert hätte – sie war bisher so verlässlich wie Sonne, Mond und Sterne gewesen. Er wusste auch nicht, wann sie erschaffen worden war – sie war einfach da gewesen und hatte immer ihren Dienst getan. Bis jetzt…
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die der Weihnachtsmann damit verbracht hatte, die Wichtel hin und her zu scheuchen, in den Werkstätten immer wieder nach dem Rechten zu sehen und allen immer wieder einschärfen, sich diesmal besonders zu beeilen, stand plötzlich der Wichtel, den er geschickt hatte den Uhrmacher zu holen, neben ihm und stieß hervor: „Chef, der Uhrmacher ist nicht zu finden! Ich habe auf der ganzen Welt nach ihm gesucht, aber niemand konnte mir sagen, wo er zu finden sei. Es tut mir leid, aber ich weiß nicht weiter.“
Der Weihnachtsmann überlegte lange, strich sich nachdenklich immer wieder über seinen langen Bart fragte den Wichtel schließlich, ob er wüsste, wie lange diese Uhr schon hier an der Wand hing. Der dachte ein Weilchen nach und sagte: „Das weiß ich nicht genau, aber ich bin jetzt über hundertfünfzig Erdenjahre bei dir, und als ich hier angefangen habe, hing sie schon da. Da schlug sich der Weihnachtsmann auf die Stirn und meinte: „Ich bin ja sooooo dumm! Weil für uns hier die Zeit zwar vergeht, aber wir ja unsterblich sind, habe ich völlig vergessen, dass der Uhrmacher, der ja höchstwahrscheinlich ein Mensch ist, schon längst gestorben sein muss! Tja, da muss ich wohl zu Petrus hinauf, denn ich glaube nicht, dass sich ein anderer Uhrmacher mit dieser einmaligen Uhr auskennt.
Gesagt, getan. Wie erstaunt war Petrus, den Weihnachtsmann an der Tür stehen zu sehen! Er ließ sich von ihm den Sachverhalt erklären und schlug das Buch der Himmelszugänge auf. Nach mehrstündiger Suche war er sicher, den betreffenden Uhrmacher ausfindig gemacht zu haben. Konrad Reisner, gestorben im Alter von 76 Jahren, als rechtschaffener Mann eingegangen in die Seligkeit. Der wird sicher bald zu finden sein. Komisch nur, dass ich scheinbar vergessen habe, das Geburts- und Sterbedatum einzutragen. Ich bin doch sonst nicht so schludrig?“ Petrus schickte ein Dutzend Engel auf die Suche nach dem Uhrmacher. Als die Engel jedoch nach einigen Stunden ohne Begleitung auftauchen, runzelte Petrus die Stirn und fragte, wo sie denn den Konrad Reisner gelassen hätten. Sie zuckten mit den Schultern und beteuerten, ihn überall gesucht zu haben – leider ohne Erfolg.
Nun meldete sich der Weihnachtsmann zu Wort: „Also, das mag jetzt vielleicht komisch klingen, aber der einzige Ort, an dem wir noch nicht gesucht haben, auch wenn‘s noch so unwahrscheinlich ist, ist… nun ja, die… Hölle. Keine Ahnung, wie er dort hinuntergekommen sein soll, aber ich bin verzweifelt genug, um nichts auszuschließen. Was meinst du, Petrus?“ Der hatte die Stirn wieder in tiefe Falten gelegt, überlegte ein kurzes Weilchen und meinte schließlich: „Also gut, machen wir uns auf den Weg.“
Als sie am Höllentor angelangt waren, meinte Petrus: „Lass mich das machen. Vor mir wird der Teufel vielleicht mehr Respekt haben.“ Er klopfte dreimal laut am Tor. Sofort ging es einen Spalt auf und ein kleiner Teufel lugte hervor. Als er die himmlischen Herrschaften erkannte, wurde er bleich – also in seinem Fall – rosa. Er erkundigte sich stotternd nach dem Begehr der Herren. „Wir wollen zu deinem Meister. Willst du uns hier stehen lassen wie gewöhnliche Bittsteller oder Neuzugänge? Doch wohl nicht, oder? Also lass uns schon rein!“ Völlig verschüchtert machte das Teufelchen den himmlischen Gästen Platz und sauste dann fort, um seinen Herrn und Meister zu informieren. Es dauerte auch gar nicht lange, da erschien der furchterregende Herr der Hölle und fragte, welchem Umstand er den hohen Besuch zu verdanken hätte.
Petrus berichtete von der Misere und dass sie besagten Uhrmacher nirgendwo finden konnten. So seien sie auf den Gedanken gekommen, dass er vielleicht hier sein könnte. Der Teufel schaute die beiden verdutzt an und brach dann in schallendes Gelächter aus. „Ausgerechnet hier soll der Kerl stecken? Ein Rechtschaffener? Was soll ich denn mit so einem? Das mit der Uhr allerdings…“
Die beiden Himmlischen starrten den Teufel interessiert an. „Was denn? So sag‘ schon, was ist mit der Uhr? Lass dir doch nicht jedes Wort aus den Nüstern ziehen!“ Der Teufel winkte mit seiner Pranke und bedeutete ihnen, dass sie ihm folgen sollten. Als sie die Wohnhöhle des Teufels betreten hatten, zeigte der Teufel auf die Wand rechts des Eingangs und sagte: „Ihr werdet es nicht glauben, aber hier hängt auch so eine Uhr. Diese funktioniert allerdings einwandfrei.“ Der Weihnachtsmann war nun völlig baff und sah sich die die Uhr näher an. Sie war aus Ebenholz gefertigt und mit Rubinintarsien versehen. Die verschiedenen Zifferblattkreise waren etwas anders angeordnet, aber im Prinzip was es das höllische Gegenstück der kaputten Uhr.
„Weißt DU wenigstens, woher deine Uhr stammt? Kennst du diesen Uhrmacher, den wir so verzweifelt suchen?“ „Nein, tut mir leid, die Uhr hing schon da, als ich hier Stellung bezogen habe. Ich habe mir eigentlich nie Gedanken über den Kerl gemacht, weil die Uhr bisher immer funktioniert hat. Aber ich muss gestehen, dass ich mich auch immer auf sie verlasse und wahrscheinlich auch blöd aus dem Pelz gucken würde, wenn sie auf einmal nicht mehr funktioniert.“ Ich hab‘ hier auch nichts anderes, wonach man sich richten könnte. Aber, wenn ihr schon da seid, wollt ihr nicht vielleicht einen kleinen Höllenpunsch mit mir trinken? Ich werde ihn für euch auch mit Tee“ – er schüttelte sich vor Abscheu – „strecken, sonst kippt ihr mir vielleicht noch aus den Latschen.“ Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, denn sie konnten etwas Aufmunterung gut vertragen. Alsbald verabschiedeten sie sich vom Teufel und machten sich wieder auf in den Himmel, wo sie weiter überlegen wollten, wo sie den Uhrmacher noch suchen könnten.
Nach stundenlangem Überlegen meinte Petrus schließlich: „Eigentlich darf ich unseren Herrgott mit so minderen Dingen unter normalen Umständen nicht behelligen, aber mir fällt einfach nichts anderes mehr ein, als ihn zu fragen. Er weiß schließlich alles – er wird uns schon diese dreiste Störung verzeihen. Mach dich frisch, wir müssen einen guten Eindruck machen!“ Und so stapften die beiden zum Thron Gottes. Am Eingang zur himmlischen Halle des Schöpfers standen zwei Erzengel und fragten sich, was der Weihnachtsmann hier wollte – Petrus kam ja öfter zu Audienzen hierher. Als sie endlich vor ihrem Schöpfer standen und der Weihnachtsmann stockend die ganze Geschichte erzählt hatte, schmunzelte Gott übers ganze Gesicht und meinte: „Na, warum seid ihr denn nicht gleich zu mir gekommen? Nach Konrad Reisner hättet ihr noch lange suchen können, es gibt ihn nämlich gar nicht. Wie ihr vielleicht wisst, habe ich ab und zu das Bedürfnis, mich unerkannt unter meine „Ebenbilder“ – er grinste breit – zu mischen und unerkannt unter ihnen zu wandeln. Die Uhren – denn es sind, wie ihr jetzt wisst, deren zwei – habe ich vor langer Zeit geschaffen, um den Lauf der Dinge in beiden Reichen etwas zu synchronisieren – Ordnung muss schließlich sein. Im Laufe der Zeit kamen mehrere Zifferblattkreise hinzu, als die Menschen die Geburt meines Sohnes zu feiern begannen.
Und daher nahm ich die Identität von Konrad Reisner, dem Uhrmacher, an und verbrachte in seiner Gestalt eine Weile auf Erden. Es war sehr lustig, als ich dann auf dem normalen Weg aller Sterblichen in den Himmel aufstieg und von dir, mein lieber Petrus, geprüft und eingelassen wurde. Ich habe deine Eintragung, die völlig korrekt war, im Nachhinein ein bisschen verändert – ich habe ja nicht damit gerechnet, dass diese blöde Uhr auch irgendwann kaputtgehen könnte. Tja, als Mensch mache sogar ich manchmal Fehler! Und jetzt werde ich dich zum Nordpol begleiten – er zwinkerte dem Weihnachtsmann zu – und diese vermaledeite Uhr wieder in Gang bringen, damit es endlich Weihnachten werden kann!“
erzählt von Selune A. D. 2013
Einfach herrlich! Das ist so eine Geschichte, die ich mir beim Lesen so richtig bildlich vorstellen kann. So ähnlich wie der Trickfilm „Die Erschaffung der Welt“ (bin nicht ganz sicher, ob der Titel genau stimmt). Jedenfalls hat da ja auch der Teufel mitgespielt, nur ohne Punsch. 😅
Marika, die Trickfilme von der Erschaffung der Welt habe ich geliebt. Meine Oma hatte einen Filmvorführapparat und alle Teile davon. Es war so schön, wenn sie uns Kindern die Filmchen vorgeführt hat. Ach, lang lang ist`s her…
Wäre lustig anzusehen, wenn’s dann noch für eine Runde Skat reicht,in der Hölle ist es schön warm. 😂😉🤣
Bring mich nicht auf Ideen… 😄
Selune, warum nicht? Wenn dabei wieder eine tolle Geschichte für uns rauskommt… 😉
Schön! Rosa Teufelchen! Petrus und Weihnachtsmann bechern mit dem Teufel, das gefällt mir!
Erinnerte mich im ersten Moment an die Himmelsscheibe von Nebra. Herrlich verziert, so könnte sie auch wirklich die Zeit anzeigen hier auf Erden. Man staunt immer wieder, welche tollen Geschichten in der Phantasie entstehen können. Es ist spannend geschrieben und liest sich gut,prima 👍😸😊
Herrlich die Geschichte. Auch ich verlasse mich auf unsere Uhren und wenn plotzlich eine davon stehen bleibt und ich es erst beim Blick auf die nächste Uhr merke und das Ganze FRÜH passiert, wenn ich auf Arbeit muß, dann gerate ich auch in Panik und Streß. Zum Glück passiert das nicht so oft. 😉
Liebe Grüße aus Thüringen von Betti